Dienstag, 10. November 2015

Tills Tour-Tagebuch: großer Nachbericht zur Ukraine-Tournee


Der Schwarzwälder Bote hat am Wochenende auf einer Doppelseite über die Ukraine-Tournee von Zweierpasch berichtet. Den Artikel hat Pasch-Rapper Till Neumann geschrieben, er arbeitet hauptberuflich als Redakteur. Das PDF gibt's hier: https://goo.gl/4c194M


 Den ganzen Text gibt's hier:

Auf Hip-Hop-Mission im Krisengebiet


Zwei Freiburger Rapper touren eine Woche mit Band durch die Ukraine / Blumen auf dem Maidanplatz erinnern an Gefallene / Besuch stimmt nachdenklich – und euphorisch

Von Till Neumann

»Wir überschreiten Grenzen, grenzenlos über Grenzen«, rappen zwei Freiburger Zwillingsbrüder am 24. Oktober auf einer Bühne im Zentrum Kiews. Begleitet werden die 32-Jährigen von einem deutschen Gitarristen und zwei Ukrainern: Costa an den Drums und Sasha am Piano. Die rund 300 ukrainischen Zuschauer im Saal tanzen, singen und kreischen. Gänsehaut pur. Das Verrückte daran: Einer der beiden Rapper bin ich. Auch heute, zwei Wochen nach dem Auftritt, kribbelt es noch.

Das Konzert war Abschluss eines in vieler Hinsicht grenzüberschreitenden Projekts. Eine Woche war ich mit meiner deutsch-französischen HipHop-Band Zweierpasch auf Ukraine-Tournee. Auf Einladung des Kiewer Goethe-Instituts und des dortigen Institut Français. Mit unseren zweisprachigen Texten über Grenzen, Toleranz und Flüchtlinge waren mein Zwillingsbruder Felix und ich schon bis zum Bundespräsidenten Joachim Gauck und ins westafrikanische Mauretanien
eingeladen worden. Dass es in die Ukraine gehen könnte, hätten wir nicht gedacht. Sprachlich und persönlich hatten wir bis vor ein paar Tagen keinen Bezug zu dem Land.

Das hat sich nun komplett geändert. In einer Woche habe ich dort die drei größten Städte bereist: Kiew, Charkow und Dnjepropetrowsk. Wir haben drei Konzerte gespielt, drei Workshops für Schüler gegeben und unglaublich viele Leute kennengelernt. Von der französischen Botschafterin über die bettelarme Großmutter bis zum Maidan-Revolutionär, der an vorderster Front mitprotestiert hat. Einige sind unsere Freunde geworden. Der Krieg in der Ostukraine, das Zerren um die Krim und vor allem die Bilder von der blutigen Maidan-Revolution im Winter 2013/2014 hatten wir vor der Reise im Kopf. Sollten wir die Einladung ablehnen? Unsere Eltern hätten aufgeatmet. Wir nicht. Auf HipHop-Mission in der Ukraine, einem gespaltenen Land zwischen Ost und West. So eine Chance kriegt man nicht zweimal: Augen zu – und rein ins Abenteuer.

17. Oktober. Ankunft in Kiew. Schon die ersten Eindrücke sind überwältigend: Wir sind im sowjetisch-charmanten Hotel Kozatskiy direkt im Herzen der Stadt. Freier Blick vom Balkon auf den Maidanplatz. Rot schimmern die Laternen im Schatten der großen Säule. In 36 Meter Höhe thront Erzengel Michael, der Schutzpatron der Stadt. Wo vor zwei Jahren Menschen erschossen wurden, spazieren heute andere gemächlich über Pflastersteine.

Der Leiter des Kiewer Institut Français weiht uns später in ukrainische Spezialitäten ein. Im Restaurant gibt’s frittiertes Gemüse, Fleischravioli und Meerrettich-Vodka. Später geht’s ins Kulturzentrum Partkom. Dort lernen wir die zwei ukrainischen Musiker kennen, die mit uns auf Tournee gehen: Schlagzeuger Costa und Pianospielerin Sasha. Der Empfang ist herzlich. Etwa 20 Mann sind in den drei Räumen, in denen während der Revolution Verwundete gepflegt wurden. Es wird angestoßen, gequatscht und musiziert. Alle sind gespannt, was die kommenden Tage passieren wird. Schließlich sollen wir in drei Tagen ein einstündiges Konzert vorbereiten – trotz Sprachbarrieren. Kann das klappen? Auf dem nächtlichen Heimweg stehen Panzer und bewaffnete Soldaten vor einem Gebäude. Wir sind im Krisengebiet, kein Zweifel.

Am nächsten Morgen bietet das Frühstücksbuffet einen überraschenden Anblick: Würste, Hähnchen, Kartoffelsalat. Es gibt aber auch Brot, Müsli und Kuchen. Wir nehmen Letzteres, die Ukrainer am Nachbartisch bevorzugen Herzhaftes, das ist hier üblich. Dann erkunden wir den Maidanplatz: An vielen Orten sind Tafeln mit riesigen Fotos der Revolution aufgestellt. Blumen erinnern an Gefallene. Auf dem zentralen Podest werden zu patriotischen Liedern Wahlkampfreden gehalten. Eine Woche später wird Kommunalwahl sein. Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko will wiedergewählt
werden.

Die Proben im Partkom mit Costa und Sasha klappen erstaunlich gut. Vollprofis. An diesem und den zwei darauffolgenden Tagen schaffen wir es, 13 Songs bühnenreif zu machen. Wir verstehen nicht immer, was der andere auf Englisch sagt, kommen am Ende aber zu verblüffenden Ergebnissen. Es wird geprobt, gescherzt und gelacht. Am zweiten Abend feiern Felix und ich Geburtstag. Wir stoßen mit Sekt an. Das ukrainische Bier schmeckt ebenfalls.

Tag vier, am Abend brechen wir auf. Tourneestart. Es geht mit dem Nachtzug Richtung Osten, nach Charkow – keine 50 Kilometer entfernt von Russland. Wir schlafen im »Luxusabteil« mit zwei Betten pro Kabine. Unsere Tour-Begleiterin Lena vom Goethe-Institut zeigt mir die Standardkabinen. Dort schlafen Menschen dicht an dicht auf zwei Etagen. Die Luft ist dick, die Temperatur hoch. Der Zug hält, eine alte Frau steigt ein. Krummer Rücken, faltige Haut, rotes Kopftuch. Sie kann kaum gehen, soll aber im oberen Stockbett schlafen. Ob wir tauschen können, fragt sie. Leider können wir nicht helfen. »Viele ukrainische Rentner sind bitterarm«, sagt Lena. »Sie haben kaum Geld zum Leben.« Acht von zehn Rentern in der Ukraine lebten 2012 von der Mindestrente über 81 Euro, schrieb »Spiegel Online« vor zwei Jahren.

Am Morgen kommen wir in Charkow an. Es ist eisig kalt, wir sind müde. Im Hotel gibt’s eine warme Dusche. Am Mittag ist der erste Workshop. Mit 25 ukrainischen Schülern rappen wir auf Deutsch und Französisch. Die anfangs recht schüchterne Gruppe taut in den 90 Minuten auf. Am Ende stelle ich fest, dass so mancher Teilnehmer Deutschland fast so gut kennt wie ich selbst. »Ich war in Hamburg, München, Erfurt, Magdeburg, Köln...«, erzählt mir eine Schülerin in fließendem Deutsch. Ihre Augen leuchten.

Am Abend steigt das erste Konzert. Wir treten im Jazzklub Pintagon auf. Alle sind ein wenig angespannt, Premiere eben. Voll ist der Saal nicht, aber die Stimmung ist gut – und unsere Performance nicht die schlechteste. Zwei junge Ukrainer bleiben im Anschluss noch eine Stunde im Saal. Sie wollen Autogramme, Selfies und Unterschriften auf den Arm. Deutsch-französischer Rap begeistert offenbar auch in der Ukraine.

Am nächsten Tag fahren wir Richtung Süden nach  Dnjepropetrowsk. Der Fahrer des Minibusses
ist todmüde, seine rot glänzenden Augen sind kleine Schlitze. Er ist in der Nacht von der Krim hierher gefahren, erzählt er. Weite Strecken seien aber normal, meistens fahre er bis Moskau, beschwichtigt er uns. Wir kommen unversehrt ans Ziel.

In Dnjepropetrowsk spielen wir am Abend unser zweites Konzert. Der Klub heißt Moulin Rouge. Das Ambiente ist schwülstig, aber cool. Dieses Mal sind mehr Zuschauer da, die kräftig mittanzen. Leider streikt die Technik ein wenig. Die vielen Selfie-Wünsche der Zuschauer nach dem Konzert zeigen aber, dass das kaum gestört hat. Eine Dame der deutschen Botschaft gratuliert uns überschwenglich. Wir würden mit den Ukrainern zusammenspielen, als sei das seit drei Jahren so. Ich bin gerührt, ich fühle es ähnlich. Bei Burgern und ukrainischem Bier lassen wir den Abend ausklingen.

Am nächsten Tag ist Workshop. Deutsch- und Französischlerner erklären sich dabei gegenseitig ihre Fremdsprache. Wir beide rappen gemeinsam auf Deutsch und Französisch. Jeder in der Sprache, die er seit einigen Jahren lernt – und auch ein bisschen in einer Sprache, die er noch nie gesprochen hat. Es funktioniert: faszinierend.

»Wir überschreiten Grenzen, grenzenlos über Grenzen«, rappen Felix und ich Am Abend fahren wir mit dem Zug zurück nach Kiew. Irgendwie fühlt es sich an, als wären wir wieder zu Hause. Wir sind im gleichen Hotel am Maidanplatz, kennen schon ein paar Orte und Leute. Kiew ist ein bisschen Heimat geworden. Alle sind erschöpft von der Reise. Wir gehen schlafen. Morgen ist großes Finale.

Samstag, 24. Oktober. Den Vormittag nutzen wir für einen letzten Stadtbummel. An Souvenirständen gibt’s Klopapierrollen mit Putins Konterfei. »Hier ist Krieg«, sagt Costa, der bei der Maidan-Revolution an vorderster Front stand. Im Supermarkt hat man die Qual der Wahl zwischen unzähligen Vodkas. In vielen Straßen stehen mobile Kaffeewagen, an denen heiße Wachmacher in allen Varianten zubereitet werden. Im deutschen Vergleich ist alles spottbillig. Eine Flasche Hochprozentiges kostet um die zwei Euro. Ein Kaffee um die 50 Cent. Mehrgängiges Mittagessen
gibt’s für weniger als drei Euro.

Am Mittag ist unser dritter Workshop. Rund 30 Schüler lassen am Ende die Wände wackeln, so lautstark machen sie mit. Gleich nebenan ist der Konzertsaal für den Abend. Fast 400 Plätze, eine tolle Bühne. Viele Bekanntschaften der vergangenen Tage haben sich angekündigt, auch unsere Auftraggeber sind da. Um 20 Uhr ist der Saal gut gefüllt. Etwa 300 Leute sind da. Die Stimmung hinter der Bühne ist euphorisch: Wir fünf Musiker umarmen uns, bevor wir ins Rampenlicht springen. Ab dem ersten Lied ist die Stimmung ausgelassen. Die jungen Zuschauer machen in den hinteren Reihen mächtig Alarm. »Wir überschreiten Grenzen, grenzenlos über Grenzen«, rappen Felix und ich. Die Zeilen passen wie die Faust aufs Auge. Mit Costa und Sasha sind wir in einer Woche zu einer Einheit geworden, wir sind jetzt Freunde.

Nach dem letzten Lied stammele ich ergriffen: »Das ist ein Traum, hier für euch spielen zu können.« Es war ernst gemeint, und das Gefühl ist auch heute noch da – zwei Wochen später. Nach einer durchfeierten Nacht geht es am nächsten Morgen zum Flughafen. Unser Gitarrist Stefan, Felix und ich treten schweren Herzens die Heimreise an. Ukraine, wir kommen wieder!

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